Übergänge aus der stationären Jugendhilfe

Wie Jugendberufsagenturen Care Leaver*innen unterstützen können

27.10.2023 | Dorothee Kochskämper und Severine Thomas

Care Leaver*innen sind junge Menschen, die in stationärer Erziehungshilfe wie Wohngruppe, Pflegefamilie oder anderen betreuten Wohnformen gelebt haben und von dort in ein eigenständiges Leben starten. Im Vergleich zu Gleichaltrigen, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, fehlt ihnen oft der Zugang zu sozialen, materiellen und finanziellen Ressourcen. Wenn Jugendberufsagenturen diese Gruppe stärker in den Blick nehmen, können sie mit ihrer Erfahrung in der rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit den jungen Menschen Bildungs- und Entwicklungsräume öffnen.

Portraitfotos Dr. Severine Thomas und Dorothee Kochskämper

Über die Autorinnen


Dr. Severine Thomas forscht zur Kinder- und Jugendhilfe, vor allem zu den Hilfen zur Erziehung und Leaving Care, sowie zur kommunalen Organisation sozialer Dienste für junge Erwachsene. Dazu kommen die Jugendforschung allgemein sowie Beteiligung und Kinderrechte.
Dorothee Kochskämper forscht zur Kinder- und Jugendhilfe, vor allem zu den Hilfen zur Erziehung und Leaving Care, mit dem Fokus auf den Bildungschancen von jungen  Menschen mit Jugendhilfeerfahrung.
Beide sind wissenschaftliche Mitarbeiterinen am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik – ISOP, Stiftung Universität Hildesheim.

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Das Institut für Sozial- und Organisationspädagogik hat es sich zum Ziel gesetzt in Forschung, Praxisentwicklung, Praxistransfer und Lehre die komplexen sozialen Lebenszusammenhänge durch wissenschaftliche Zugänge sichtbar zu machen und daran zu arbeiten, diese gerechter zu organisieren und demokratischer zu gestalten. Das ISOP sieht sich gleichermaßen der Grundlagenforschung, der Transfer- und Praxisforschung sowie der partizipativen Forschung verpflichtet. Es ist in ein umfassendes regionales, nationales und internationales Kooperationsnetzwerk eingebunden. Das ISOP weist ein bundesweit einmaliges Studien- und Forschungsprofil in der Kinder- und Jugendhilfe auf.

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Copyright Informationen anzeigenEin junger Mann sitzt mit dem Rücken zur Kamera auf einer Bank vor einem Gebäude. Neben ihm ein Rucksack.
Erwachsenwerden ist nicht leicht und für manche Kinder besonders schwer.

Kooperation von Jugendberufsagenturen mit stationären Erziehungshilfen ausbauen

Jugendliche und junge Erwachsene, die nicht bei ihren Familien leben und den Übergang aus der stationären Erziehungshilfe wie Wohngruppe, Pflegefamilie oder anderen betreuten Wohnformen ins Erwachsenenleben bewältigen müssen, sind bisher in ihren Bildungschancen signifikant benachteiligt. Sie müssen sehr viel früher als andere jungen Menschen ihren Lebensalltag eigenverantwortlich organisieren. Gleichzeitig verfügen sie über wenig familiäre Unterstützung und nach dem Ende der Kinder- und Jugendhilfe häufig kaum noch über professionelle Begleitung. Neben Herausforderungen wie Wohnungssuche, finanziellen Belastungen, Armutslagen und gesundheitlichen Fragen ist es daher oft schwierig für sie, Bildungsperspektiven zu entwickeln und beispielsweise eine Berufsausbildung oder ein Studium erfolgreich aufzunehmen und abzuschließen. Jugendberufsagenturen bieten eine Beratungsstruktur und umfassende Expertise, die geeignete Unterstützung für Care Leaver*innen in dieser Lebensphase bieten könnten. Diese Gruppe junger Menschen mit ihren besonderen Bedarfslagen gilt es daher für die Jugendberufsagenturen noch besser in den Blick zu nehmen.

Leaving Care – Herkunft und Bedeutung des Begriffs

"Leaving Care", vom Englischen "care" = Pflege und "to leave" = verlassen, bezeichnet den Übergang aus der stationären Erziehungshilfe wie Wohngruppe, Pflegefamilie oder anderen betreuten Wohnformen in ein eigenverantwortlich gestaltetes Leben. Junge Menschen, die diesen Prozess durchlaufen, werden auch im deutschen Fachdiskurs immer häufiger als "Care Leaver*innen" bezeichnet. Lange Zeit wurde dieser Übergang als Hilfeende verstanden. Eine begleitende, nachgehende und zeitlich unbefristete Unterstützung wurde nicht angeboten. Zum Teil gab es bis zu sechs Monate nach Hilfeende eine ambulante Nachbetreuung, aber darüber hinaus stand die Kinder- und Jugendhilfe selten für Care Leaver*innen als Unterstützung zur Verfügung.

Zahlen und Fakten zu jungen Menschen in stationären Erziehungshilfen

Im Jahr 2021 lebten in Deutschland 209.988 junge Menschen (0-27 Jahre) in stationären Erziehungshilfen. Hiervon waren 51.275 zwischen 15 und 18 Jahre alt, 37.814 junge Menschen 18 bis 21 Jahre alt und 4.605 Betreute 21 Jahre oder älter. Einige der jungen Menschen kamen erst spät in das System der Kinder- und Jugendhilfe. Andere blicken auf einen längeren Aufenthalt in den stationären Erziehungshilfen zurück. Wechselnde Unterbringungsorte und -formen sind dabei keine Seltenheit.

Destatis: Aufwachsen außerhalb des Elternhauses, Zahlen für das Jahr 2021

Die Lebenssituationen von Care Leaver*innen gestalten sich vor allem im Übergang in das junge Erwachsenenalter besonders herausfordernd und belastend. Im Vergleich zu Gleichaltrigen, die bei ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, erfahren sie in vielerlei Hinsicht starke Benachteiligungen. Dies zeigt sich in der Nicht-Verfügbarkeit sozialer, materieller und finanzieller Ressourcen sowie im erschwerten Zugang zu Bildungs- und Entwicklungsräumen auf dem Weg in ein eigenständiges Leben. Die Begleitung der jungen Menschen durch dieses Geflecht an Herausforderungen ist für eine erfolgreiche Integration in die Arbeitswelt und die Gesellschaft von höchster Bedeutung. Jugendberufsagenturen können hier als kommunal vernetzte Akteure mit breiter Expertise eine entscheidende Rolle übernehmen und den jungen Menschen in Krisen sowie Orientierungsphasen beratend zur Seite stehen.

Auf der Suche nach geeigneten Unterstützungsstrukturen und -angeboten können Jugendberufsagenturen den jungen Menschen wegweisend zur Seite stehen, vermitteln und Orientierung schaffen.

Viele der jungen Menschen, die in stationärer Erziehungshilfe betreut werden, haben schwierige Situationen in ihren Familien erlebt. Ihre Lebensverhältnisse waren nicht selten durch unzureichende soziale und materielle Ressourcen geprägt. Für Care Leaver*innen bedeutet dies, dass sie auch nach Ende der Hilfe meist nicht auf stabile soziale Beziehungen im Herkunftsmilieu zurückgreifen können. Häufig stehen weder soziale noch materielle Unterstützung durch die Herkunftsfamilie zur Verfügung. Somit bleiben die jungen Erwachsenen nach dem Verlassen der stationären Erziehungshilfen in der Regel auf öffentliche Hilfen durch das Jobcenter oder andere Sozialleistungsträger sowie auf außerfamiliäre, soziale Netzwerke angewiesen. Freund*innen- und Bekanntenkreise sowie Lehrer*innen, Trainer*innen aus Sportvereinen, Arbeitgeber*innen, Kolleg*innen, Eltern von Freund*innen und andere Personen aus dem sozialen Umfeld werden diesbezüglich von jungen Menschen immer wieder als besonders relevant benannt. Auf der Suche nach geeigneten Unterstützungsstrukturen und -angeboten für die jeweilige Bedarfslage können Jugendberufsagenturen den jungen Menschen wegweisend zur Seite stehen, vermitteln und Orientierung schaffen.

Das meist frühzeitige Hilfeende birgt strukturelle Übergangsbarrieren. Das durchschnittliche Auszugsalter liegt in Deutschland für Frauen bei 22,7 Jahren und für Männer bei 24,4 Jahren. (1) Care Leaver*innen verlassen die stationäre Hilfe hingegen häufig bereits mit 18 Jahren. Sie müssen im Vergleich zu Gleichaltrigen, die bei ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen, "früher, schneller und in der Regel in Auseinandersetzung mit prekären sozialen Konstellationen" (2) auf eigenen Beinen stehen. Das frühzeitige Hilfeende und der damit verbundene Wegfall institutioneller Unterstützungsstrukturen führt zu vielfältigen Benachteiligungen. Care Leaver*innen durchlaufen in der Regel einen beschleunigten und wenig begleiteten Prozess des Erwachsenwerdens.

Die jungen Menschen werden hier mit mehreren Übergängen parallel konfrontiert: dem Übergang ins Erwachsensein sowie dem Übergang aus dem öffentlichen Hilfesetting in einen eigenen Wohnraum, teilweise auch einhergehend mit einem Wohnortwechsel und Bildungsübergängen.

Eine enge Zusammenarbeit von Jugendberufsagenturen und den örtlichen Trägern stationärer Hilfen würde eine frühzeitige, gezielte Unterstützung (zukünftiger) Care Leaver*innen ermöglichen, sodass bereits im Vorfeld geeignete Unterstützungsstrukturen für die Zeit nach dem Hilfeende sichergestellt werden könnten.

Rechtliches zum Hilfeende

Die Hilfen zu Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII, worunter auch stationäre Erziehungshilfen fallen, richten sich an Eltern zur Förderung der Entwicklung ihrer Kinder, also an Familien und junge Menschen bis 18 Jahre. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit erlischt der Anspruch auf Hilfen zur Erziehung. Junge Menschen selbst werden dann Rechtsträger für Hilfen für junge Volljährige (18-21 Jahre) im Sinne des § 41 SGB VIII. Der Anspruch auf die Hilfen für junge Volljährige wurde durch die Reform des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) im Juni 2021 gestärkt. In begründeten Einzelfällen kann die Hilfe für einen begrenzten Zeitraum auch über das 21. Lebensjahr hinaus, bis zum 27. Lebensjahr, gewährt werden – dies stellt jedoch bislang eher die Ausnahme dar. Eine weitere rechtliche Neuerung ist die verbindliche Übergangsplanung. Soll eine Hilfe beendet werden, ist das Jugendamt nach § 41 Abs. 3 SGB VIII zu einer verbindlichen und rechtzeitigen Übergangsplanung in Kooperation mit anderen Sozialleistungsträgern verpflichtet.

Fachstelle Leaving Care: Rechtliche Aspekte

Leaving Care und Bildung

Die bis hierhin skizzierten Ausgangsbedingungen im Übergang führen zum Teil zu einer Beeinträchtigung der Bildungschancen von Care Leaver*innen (3). Bildung ist von hoher Bedeutung für ein eigenverantwortlich geführtes Leben sowie gesellschaftliche Teilhabe und damit auch ein wichtiger Faktor für einen gelingenden Leaving-Care-Prozess. Care Leaver*innen gehören jedoch zu den Personengruppen, die in ihren Bildungschancen stark benachteiligt sind. Ihnen stehen nicht alle beruflichen Bildungsmöglichkeiten selbstverständlich offen. Die folgenden Faktoren wirken gefährdend für den Bildungserfolg von Care Leaver*innen:

Fehlende (soziale) Unterstützungsstrukturen

Unterstützungsstrukturen und damit emotionaler und sozialer Support, insbesondere familiäre Unterstützung, gelten als wichtige Ressourcen für den Bildungserfolg. Junge Menschen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe bestreiten ihren Bildungsweg jedoch weitgehend ohne (familiäre) Unterstützung, was die Chance auf das Erreichen höherer Bildungsabschlüsse mindert. Hinzu kommt insbesondere bei Care Leaver*innen aus Wohngruppen häufig ein Abbruch von Beziehungen, zum Beispiel zu Betreuer*innen und Mitbewohner*innen am Hilfeende, wodurch der emotionale und soziale Rückhalt für viele Care Leaver*innen nach dem Hilfeende nicht gewährleistet ist. Dies gestaltet sich im Übergangsprozess von Care Leaver*innen aus Pflegefamilien meist anders – hier bleiben Beziehungen häufig bestehen (4). Für junge Menschen, die weitgehend ohne familiäre Unterstützung zurechtkommen müssen, hat sich die Situation während der COVID-19-Pandemie zusätzlich verschlechtert. Das Stichwort lautet hier "Familie als Ressource" – denn genau dies wird zur Bewältigung der Pandemiefolgen quasi vorausgesetzt. Dem Großteil der Care Leaver*innen steht diese Option allerdings nicht zur Verfügung.

Fehlende Förderung individueller Bildungsverläufe

Eine weitere Gefährdung entsteht durch die fehlende Förderung individueller Bildungsverläufe in den stationären Erziehungshilfen. Dabei geht es um die Begleitung bei der Entwicklung von individuellen Zukunftsperspektiven bis hin zur beruflichen Orientierung sowie der Auseinandersetzung mit möglichen Ausbildungswegen. Insbesondere höhere Bildungsaspirationen junger Menschen in stationären Hilfen werden nur selten gefördert. Unterschiedliche Studien stellen eine starke Ausbildungsorientierung im Kontext der Erziehungshilfen heraus. Ist die Berufswahl jedoch erst einmal getroffen, gestaltet sich eine eventuelle Neuorientierung – beispielsweise das Nachholen des Abiturs, um gegebenenfalls auf dem zweiten Bildungsweg ein Studium aufzunehmen – als weitere Hürde. Die Gründe für die fehlende Förderung sind vielfältig: eine geringe Erwartungshaltung des sozialen Umfelds gegenüber den jungen Menschen, Missverständnisse (zum Beispiel bezogen auf die Zulassungsvoraussetzungen eines Studiums) und wirtschaftlich motivierte Entscheidungen, die von den Kosten der unterschiedlichen Ausbildungsmöglichkeiten beeinflusst sind.

Rechtskreiswechsel vor oder während der Ausbildung

Die Verschiebung von Zuständigkeiten nach dem Hilfeende aus der Kinder- und Jugendhilfe in andere Leistungsbereiche führt dazu, dass Care Leaver*innen häufig schon weit vor der Chance auf das Erreichen von Ausbildungsabschlüssen, teilweise sogar bereits vor dem allgemeinbildenden Schulabschluss, finanziell nicht abgesichert sind. Da nahtlose Anschlussfinanzierungen durch aufwändige Antragsverfahren nicht garantiert sind, werden bis dahin erreichte Entwicklungen und Perspektiven zum Teil durch die strukturellen Bedingungen gefährdet.

Internationale Studien zeigen jedoch, dass sich das Wohlbefinden von Care Leaver*innen erheblich verbessern kann, wenn sie positive Bildungserfahrungen machen (5). Bildungsorientierung kann für die jungen Menschen auch eine Bewältigungsstrategie sein (6). Trotzdem wird der Fokus in den stationären Erziehungshilfen häufig nur mittelbar auf die Förderung der schulischen Bildung sowie der informellen Bildungsinteressen und -fähigkeiten der jungen Menschen gelegt (7). Care Leaver*innen erreichen seltener als Gleichaltrige höhere Schulabschlüsse und auch ihr Anteil an weiterführender Bildung ist sehr gering (8). Dies kann mit biografischen Erfahrungen und psychischen oder anderen gesundheitlichen Folgen zusammenhängen, es ist aber – das zeigen die Studien(9) – nicht selten der fehlenden individuellen Förderung der jungen Menschen zuzuschreiben. Der Fokus der Hilfen liegt eher auf der psychosozialen Stabilisierung der jungen Menschen sowie der Schaffung eines verlässlichen Alltags als auf der Förderung von Bildungsperspektiven.

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Film: Zukunft durch Bildung. Im Gespräch mit Care Leaver*innen

Der kurze Dokumentarfilm zeigt, welche Bedeutung Bildung im Hinblick auf einen gelingenden Leaving-Care-Prozess hat. Im Film erzählen Care Leaver*innen von ihren Erfahrungen; davon, welchen Herausforderungen sie auf ihrem Bildungsweg begegnet sind und davon, wer und was ihnen dabei geholfen hat. Entstanden ist der Film während eines mehrtägigen Workshops im April 2022, im Rahmen der Projekte CareHOPe und StudyCare. Aufnahmen und Schnitt: Martin Steimann.

careleaver-online: Leaving Care und Bildung

Die internationalen Beispiele belegen auch, dass eine für Care Leaver*innen etablierte bessere Infrastruktur, dazu zählen Stipendien und andere Formen der finanziellen Absicherung während der Ausbildung, längere Begleitung während der beruflichen Bildung, sichere Wohnverhältnisse bis zum Abschluss der Ausbildung, zum Beispiel über Zugang zu Wohnheimplätzen, individuelles Mentoring und ähnliches, zu mehr Bildungserfolg führt. Insbesondere im Hinblick auf die Finanzierung sowie auf (außerfamiliäre) Unterstützungsstrukturen ist Entwicklungsbedarf zu erkennen. Im Laufe der vergangenen Jahre sind vereinzelt Projekte und Anlaufstellen für Care Leaver*innen in Deutschland entstanden, so zum Beispiel das Comeback-Büro in Hannover, der Heimathafen in Hiddenhausen-Schweicheln, das House of Dreams in Dresden und das Care Leaver Kollektiv in Leipzig. Diese Projekte basieren jedoch auf dem Engagement privater Träger und sind auch finanziell nicht langfristig gesichert. Zudem gibt es sehr vereinzelt Initiativen wie den Kölner Kreidekreis e.V., die sich der sozialen Einbindung junger Leute mit Jugendhilfeerfahrung annehmen. Die Links zu den genannten Angeboten finden sich am Ende des Textes. Angebote wie spezielle Stipendien, Wohnheimplätze und Vergleichbares gibt es bislang in Deutschland nicht. Es fehlt hier an strukturell verankerten Angeboten für die spezifische Lebenssituation von Care Leaver*innen sowie an konkreten Angeboten im Bereich Bildungsförderung für Care Leaver*innen.

Das Verlassen der stationären Hilfen fällt häufig mit unsicheren Übergängen in die Berufsorientierung oder den Berufsstart zusammen.

Im Übergang aus der stationären Erziehungshilfe setzen sich Bildungsbarrieren in der Regel fort. Die meisten Care Leaver*innen haben zu diesem Zeitpunkt noch keine gesicherte berufliche Perspektive und müssen diese dann ohne Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe – auf sich allein gestellt – meistern (10). Das Verlassen der stationären Hilfen fällt daher häufig mit unsicheren Übergängen in die Berufsorientierung oder den Berufsstart zusammen.

Durch die Verzahnung der Kompetenzen der Sozialleistungsträger in Jugendberufsagenturen kann dazu beigetragen werden, dass die jungen Menschen frühzeitig vor dem Einsetzen des Hilfeendes entsprechende Beratungsangebote erhalten, um für sich selbst eine berufliche Perspektive zu entwickeln. Auf diese Weise kann auch der Anspruch auf eine rechtzeitige verbindliche Übergangsplanung nach § 41 Abs. 3 SGB VIII besser umgesetzt werden. Die Vernetzung ermöglicht es zudem, passgenauere Hilfen anzubieten, die junge Menschen darin unterstützen, ihre selbst gesteckten Ziele zu erreichen, wie beispielsweise die Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums. Dabei kann gleichzeitig über den gesamten Ausbildungsverlauf hinweg für die Sicherung des Lebensunterhalts der Care Leaver*innen Sorge getragen werden.

Die Situation von Care Leaver*innen ist ein Beispiel für eine strukturell bedingte Ungleichheit. In diesem Geflecht ist es nicht einfach für Care Leaver*innen, ihre eigenen Bildungsziele zu verfolgen und zu erreichen. Sie sind in ihren Bildungschancen stark benachteiligt. Die besonderen Bedarfslagen von Care Leaver*innen werden bislang nicht ausreichend berücksichtigt. Die Übergänge gestalten sich kompliziert und voraussetzungsvoll und sind anfällig für misslingende Bildungsverläufe. Es sind weniger die individuellen Fähigkeiten, die den Bildungsweg der jungen Menschen erschweren, als strukturelle Hindernisse. Es zeigt sich deutlich, dass die Unterstützung der jungen Menschen auf ihrem Bildungsweg von besonderer Bedeutung für einen gelingenden Leaving-Care-Prozess ist.

Unterstützung "aus einer Hand" durch Jugendberufsagenturen

Jugendberufsagenturen können entscheidend für einen gelingenden Bildungsübergang von Care Leaver*innen sein. Denn damit Care Leaver*innen im Übergang aus der Jugendhilfe ins Erwachsenenleben gut begleitet werden, müssen viele Stellen zusammenarbeiten. Die Übergänge von jungen Erwachsenen in besonderen Bedarfslagen sind als kommunale Gesamtaufgabe auszugestalten. Es gilt, verlässliche, kommunale Infrastrukturen zu gestalten, die jedem jungen Menschen die Teilhabe an allen Gesellschaftsbereichen ermöglichen. Jugendberufsagenturen können hier als mehrperspektivische, rechtskreisübergreifende Bündnisse eine entscheidende Rolle einnehmen.

Jugendberufsagenturen können entscheidend für einen gelingenden Bildungsübergang von Care Leaver*innen sein.

Durch den Zusammenschluss der verschiedenen Sozialleistungsträger und damit der Schaffung einer verlässlichen, verbindlichen, dauerhaften Anlaufstelle wird für die jungen Menschen der Zugang zu den örtlichen Unterstützungsstrukturen vereinfacht. Hierdurch wird eine Unterstützung "aus einer Hand" ermöglicht und damit auch die Situation für die Care Leaver*innen erleichtert. Um diese Ressource voll auszuschöpfen und den komplexen Problemlagen, in welchen sich junge Menschen im Übergang aus der Jugendhilfe in ein eigenständiges Leben häufig befinden, adäquat begegnen zu können, ist es wichtig, dass Fachkräfte in den Jugendberufsagenturen gut aufgestellt sind. Das bedeutet, dass sie sowohl mit den Lebenslagen und den damit verbundenen Bedarfen der jungen Menschen, als auch mit den kommunalen Strukturen, Angeboten und Möglichkeiten vertraut und gut vernetzt sind.

Dafür braucht es:

  • Informationen über die Lebenssituation und die damit verbundenen Herausforderungen junger Menschen, die in stationären Hilfen untergebracht sind,
  • Informationen über die Träger der stationären Angebote vor Ort, gegebenenfalls auch zentrale Stellen, die sich um Pflegefamilien kümmern,
  • Informationsangebote für Träger von stationären Angeboten und Pflegefamilien zum Angebot der Jugendberufsagentur, also Sichtbarkeit der Jugendberufsagentur,
  • möglichst frühzeitige gezielte Unterstützung von (zukünftigen) Care Leaver*innen in enger Zusammenarbeit mit den Trägern der stationären Hilfen,
  • Einbindung von und Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren, die Angebote für Care Leaver*innen machen, zum Beispiel Care Leaver*innen-Beratungsstellen, Peer-to-Peer-Angebote und ähnliches.

Online-Angebote für Betroffene, Kommunen und Träger

Der Verein Careleaver e.V. ist eine bundesweite Interessenvertretung von jungen Menschen, die in einer Einrichtung oder Pflegefamilie aufgewachsen sind.

Die Seite Careleaver-Online richtet sich an junge Menschen, die aus der stationären Jugendhilfe in ein selbstständiges Erwachsenenleben wechseln.

Das Team der Online-Peerberatung "Zukunft durch Bildung" unterstützt Care Leaver*innen anonym und kostenlos im Hinblick auf Berufs-, Bildungs- und allgemeine Zukunftsperspektiven. Alle Berater*innen sind selbst Care Leaver*innen.

Die Fachstelle Leaving Care unterstützt Kommunen beim Aufbau von Infrastrukturen des Leaving Care. Für öffentliche und freie Träger oder für Care-Leaver*innen-Initiativen bietet die Fachstelle umfangreiche Möglichkeiten zur Vernetzung, Fortbildung und Beratung.

Der Landkreis Hildesheim will die Übergänge von jungen Menschen aus stationären Erziehungshilfen ins Erwachsenenleben mit einer Gesamtstrategie für soziale Dienste und Leistungsträger weiterentwickeln. Das "Hildesheimer Übergangsmodell" ist ein "Beispiel guter Praxis" für rechtskreisübergreifende Übergangsbegleitung. Es beinhaltet Handlungsempfehlungen für Kommunen und Fachkräfte zur Entwicklung eines geeigneten Standards für die rechtskreisübergreifende Übergangsbegleitung von Care Leaver*innen und soll für die jungen Menschen Verfahrenssicherheit gewährleisten.

Projekte und Anlaufstellen für Care Leaver*innen

Das Comeback-Büro bietet unbürokratische, kostenlose und auf die individuelle Situation angepasste Beratung für Care Leaver*innen. Träger ist das Stephansstift der Evangelischen Jugendhilfe in Hannover. In der Beratungsstelle kann man auch ohne konkretes Anliegen zum Austausch vorbeischauen.

Ein Flyer bietet eine kompakte Übersicht über die Angebote des Careleaver-Büros.

Eine weitere Anlaufstelle für Care Leaver*innen bietet der "Heimathafen", ein Angebot der Evangelischen Jugendhilfe Schweicheln.

Das Careleaver-Zentrum "House of Dreams" wird vom Kinder- und Jugendhilferechtsverein e.V. der Fachststelle für ombudschaftliche Beratung in der Kinder- und Jugendhilfe in Sachsen (FOSA) getragen und von der Drosos Stiftung finanziert.

Das Careleaver* Kollektiv Leipzig unterstützt seit Herbst 2020 Careleaver*innen, Fachkräfte und Pflegeeltern durch verschiedene Hilfsangebote, Vernetzung und Selbstvertretung sowie durch Qualifzierungsmaßnahmen.

Es gibt auch Initiativen wie den Kölner Kreidekreis, die sich besonders um die soziale Einbindung junger Menschen mit Jugendhilfeerfahrung kümmern. Der Kölner Kreidekreis e.V. ist ein Träger der freien Jugendhilfe, der Heimkindern, die keinen oder nur sehr wenig Kontakt zu ihren Eltern haben, ehrenamtliche Paten als Wegbegleiter an die Seite stellt.

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Fußnoten und Literaturverzeichnis

Fußnoten und Literaturverzeichnis

Fußnoten

  • 2Mangold 2016
  • 3vgl. Zeller 2012
  • 4vgl. Ehlke 2020
  • 5vgl. Berridge 2012 sowie Jackson, Höjer 2013
  • 6vgl. Mangold, Schröer 2014 sowie Mangold, Rein 2014
  • 7vgl. Köngeter, Mangold, Strahl 2016
  • 8vgl. Köngeter, Schröer, Zeller 2008
  • 9vgl. Jackson, Ayayi, Quigley 2015
  • 10Köngeter, Mangold, Strahl 2016

Literatur

Berridge, David (2012): "Educating young people in care: What have we learned?", Children and Youth Services Review, Elsevier, vol. 34(6), pages 1171-1175.

Ehlke, Carolin; Sievers, Britta; Thomas, Severine (2022): Werkbuch Leaving Care. Verlässliche Infrastrukturen im Übergang aus stationären Erziehungshilfen ins Erwachsenenleben. Frankfurt am Main: IGfH-Eigenverlag.

Jackson, Sonia; Ajayi, Sarah Quigley, Margaret (2005): Going to University from Care. Institute of Education, University of London.

Jackson, Sonja; Höjer, Ingrid (2013): Prioritising education for children looked after away from home, European Journal of Social Work, 16:1, 1-5, DOI: 10.1080/13691457.2012.763108.

Köngeter, Stefan; Schröer, Wolfgang; Zeller, Maren (2012): Statuspassage "Leaving Care": Biografische Herausforderungen nach der Heimerziehung. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 7(3), 261-276.

Köngeter, Stefan; Schröer, Wolfgang; Zeller, Maren (2008): Regionale Übergangsstrukturen als soziale Ermöglichungsräume. Erziehungshilfe & Beschäftigungsförderung vor neuen Herausforderungen in der Gestaltung von Übergängen in Arbeit. In Arnold, Helmut & Lempp, Theresa (Hrsg.). Regionale Gestaltung von Übergängen in Beschäftigung: Praxisansätze zur Kompetenzförderung junger Erwachsener und Perspektiven für die Regionalentwicklung. Beltz Juventa, S. 83-104.

Köngeter, Stefan; Mangold, Katharina; Strahl, Benjamin (2016): Bildung zwischen Heimerziehung und Schule. Ein vergessener Zusammenhang. Weinheim, München: Beltz-Juventa.

Mangold, Katharina (2016): Studieren nach stationärer Jugendhilfe. Herausforderungen von Care Leavern im Übergang an Hochschulen.

Sievers, Britte; Thomas, Severine; Zeller, Maren (2015): Jugendhilfe und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. Ein Arbeitsbuch. Frankfurt a. M.

Thomas, Severine (2016): Care Leaver im Übergang – Der Weg junger Erwachsener aus stationärem Erziehungshilfen in ein eigenständiges Leben. In: Heimgartner, Arno; Lauermann, Karin; Sting, Stephan (Hrsg.): Fachliche Orientierung und Realisierungsmöglichkeiten in der Sozialen Arbeit. LIT Verlag: Wien. S. 279-294.